Als hätte Großbritannien nicht genug Sorgen, jetzt wird die Nation der Gartenfreunde und Tierliebhaber durch diese Nachricht beunruhigt. Nach neuesten Zahlen ist der Bestand an Igeln seit 2000 auf den Inseln um 75 Prozent geschrumpft, pro Jahr werden es 8,3 Prozent weniger. 2018 lebten insgesamt noch etwa 880.000 Igel in Großbritannien. Die stärksten Rückgänge gibt es einem gerade veröffentlichten Bericht zufolge im Osten Englands. In den Städten konnte der seit Jahren diskutierte und bekämpfte Schwund gestoppt werden, aber nicht auf dem Land.
Sorgen bereitet auch der legendäre Bestand im königlichen Regent’s Park in der Londoner City. Dort leben isoliert 30 bis 40 Igel, eigentlich zu wenig für eine überlebenssichere Population. Die Tiere werden zweimal im Jahr akribisch und aufwendig – von bis zu 200 freiwilligen „Hedgehog Heroes“ mit Wärmebildkameras – gezählt. Das Igel-Empire soll nicht wanken und nicht fallen.
In Deutschland ist die Situation nicht wesentlich besser, der Abwärtstrend der gleiche. „Wir sind den Engländern eigentlich immer nur zehn Jahre hinterher“, sagt Anne Berger vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin. Vor allem liegen hierzulande kaum Vergleichsdaten vor, zu den wenigen Studien mit langer Dauer gehört eine Auswertung aus Bayern. Auf der B12 zwischen München und dem Inntal wurden seit den 70er-Jahren alle überfahrenen Igel gezählt. Die Zahlen gingen über die Jahrzehnte stark zurück, was auf das Igelvorkommen schließen ließ. 2015 wurde die Studie beendet, weil sich kaum mehr tote Igel fanden, und es ist auszuschließen, dass die Tiere kürzlich gelernt hätten, die Straßen unfallfrei zu überqueren.
Der in Europa heimische Braunbrustigel ist ein schwer zu zählendes Tier: nachtaktiv, ein Exemplar schwer vom anderen zu unterscheiden, insofern darf „Der Hase und der Igel“ als biologisch versiertes Märchen gelten. Die Gründe für das Aussterben auf dem Land sind schnell aufgezählt. Pestizide dezimieren die Insekten, Käfer, Engerlinge, Larven gehören neben Regenwürmern zur Nahrung.
Igelforscherin Anne Berger sagt: „Sie haben nichts mehr zu fressen, und sie haben auch nichts mehr zum Wohnen. Sie können keine Nester bauen, weil es auf dem Land kaum noch Hecken und Grünstreifen gibt.“ Der Klimawandel ist in diesem Fall kein echter Beschleuniger; allerdings wirken sich die Dürresommer mit harten Böden und wenig Wasser problematisch aus.
Also überleben die Igel derzeit in den Städten mit ihren Parks und Grünflächen, an Stadträndern mit vielen Gärten. Berger hat in Berlin zuletzt die Verwandtschaft der Hauptstadtigel untersucht. Es gibt demnach drei Clans, die Deutschlands größte Stadt prägen, allerdings ohne für viel Aufsehen und Fernsehserien zu sorgen. Eigentlich sollten die Igelclans voneinander getrennt sein, denn Straßen, Flüsse, Bahntrassen sorgen für unüberwindliche Barrieren. Dennoch fanden die Wissenschaftler bei der Analyse der Genome von 143 Igeln, dass es eine echte „Berliner Mischung“ gibt.
Wie schaffen es die Tiere, sich in der Stadt mit ihren Gefahren so gut zu durchmischen? Anne Berger nennt zwei Möglichkeiten. Entweder ist die Grünflächenversorgung so lückenlos und gut, dass Igel ungehindert migrieren können – oder der Mensch hat seine Hände im Spiel. Wahrscheinlicher ist die zweite Variante, sie wird gestützt durch Berichte der Igelauffangstationen. Gefundene und aufgepäppelte Jungtiere werden oft an neuen Standorten ausgesetzt – und verbreiten sich.
In Jahren mit feuchtwarmen Sommern und trockenkalten Wintern, guter Nahrung und vielen Nestern bekommen die Weibchen bis zu zehn Nachkommen, die Igel könnten also durchaus mehr werden. Dass es anders ist, liegt auch an bedauernswerten Faktoren in den Städten. Dazu gehören die bekannten Hindernisse, auch die zunehmende Zahl von Hunden und Plastikmüll. Anne Berger kritisiert den mit Blick auf Igel unsinnigen Ordnungseifer in Parks, wo im Herbst alles Laub und damit Nestmaterial weggeräumt wird.
Dazu kommen zwei beliebte Gegenstände der wohlständigen Grünpflege. Laubbläser zerstören zuweilen Igelnester oder saugen im Herbst Jungtiere, die bloß hundert Gramm wiegen, schlicht weg. Und Mähroboter entfalten verheerende Wirkung, selbst wenn die Produkte inzwischen igelverletzungsfreies Mähen versprechen. In allen Igelstationen wird eine Zunahme schlimmster Schnittverletzungen beobachtet. Berger: „Die Dunkelziffer ist riesig, der Igel jault nicht auf, er schleppt sich mit zwei abgeschnittenen Beinen ins Gebüsch.“
Igelfreunde wollen deshalb per Petition ein Nachtfahrverbot für Mähroboter initiieren. Allerdings ist auch das nicht eben leicht – weil genaue Daten und Zahlen fehlen, siehe oben.
Immerhin ist es für jeden Einzelnen recht einfach, etwas für Igel zu tun. Dazu gehören insekten- und käferfreundliche Pflanzen im Garten, keine Schottergärten, lieber Jägerzäune statt Mauern. Und etwas Laub in der Ecke kann wahre Wunder bewirken.
Dieser Artikel wurde erstmals im März 2022 veröffentlicht.