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Wahlen in den Niederlanden Ladykiller gegen Harry Potter

Kurz vor dem Urnengang am Mittwoch werden die Wahlen in den Niederlanden noch spannend - eine wilde Aufholjagd der Sozialdemokraten zu den regierenden Christdemokraten hat begonnen: Ein Land zwischen konservativer Sachlichkeit und linker Charmeoffensive.
Von Sylvia Schreiber

Brüssel - Sieht so ein Staatsmann aus? Wouter Bos grinst, Küsschen links, Küsschen rechts. Die Mädels kreischen bei seiner Wahlparty wie früher beim Beatles-Konzert in Amsterdam. "Lecker Popöchen", das ist noch einer der harmloseren Sprüche in der Kneipe am Rande von Nijmegen, wo der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten "borreltjes", ein paar Schnäpschen, ausgibt. Er ist ja so sympathisch, sie mögen ihn, den frischen Jungen mit der Sportlerfigur und den flinken Antworten, ein Ladykiller. Über Nacht hat der neue Sonny-Boy im niederländischen Wahlkampf die darniederliegende "Partij van de Arbeid" (PvdA) in neue, unerreichbar scheinende Höhen katapultiert. Drei Tage vor der Parlamentswahl an diesem Mittwoch liegen die Sozialdemokraten bei den meisten Umfragen mit den regierenden Christdemokraten gleichauf, bei jeweils rund 40 Sitzen.

Manche Institute sehen die Partei der Arbeit sogar schon vorn. Von Tag zu Tag wird es damit immer ungewisser, ob der amtierende Premier Jan Peter Balkenende vom Christlich Demokratischen Appel (CDA) noch einmal Ministerpräsident wird. Der ist mit seinen 45 Jahren zwar der derzeit jüngste Regierungschef Europas und alles anderer als ein Greis. Wegen seines Fransenhaarschnitts und der Nickelbrille nennen sie ihn Harry Potter. Aber gegenüber dem flotten 39-jährigen Wouter Bos von der Konkurrenz, der früher schon mal Finanzstaatssekretär und Shell-Manager war, wirkt Kirchgänger Balkenende aus der niederländischen Provinz bieder und blass. Amtsinhaberisch eben.

"Normal ist schon verrückt genug", heißt es im benachbarten Königreich über Temperament des Volkes. Bei den Wahlen jedoch scheint es überzuschäumen wie anderswo im Karneval. Seit Dezember läuft die Kampagne, und sie wird über alle Kanäle in den elektronischen Medien geführt. Hat ein Kandidat nicht mindestens fünf TV- oder Hörfunkauftritte pro Tag, spielt er nicht in der Spitzenliga.

Auf dem Elefanten durch Rotterdam

Die Spaßgesellschaft, in ihrer niederländischen Variante mit vielen Gameshows oft besonders infantil, hinterlässt tiefe Spuren: Da reitet der Spitzenkandidat der völlig abgehalfterten Liste Pim Fortuyn auf einem Elefanten durch Rotterdam - das Fernsehen bringt es. Da steigen Wahlkämpfer in die eisigen Winterfluten des Ijsselmeeres - sie bekommen Live-Minuten. Da rockt der pummelige Jan Marijnissen, Ex-Maoist und heute Chef der undogmatischen Sozialistenpartei, in seinem Wahlkampfspot zu einem lustigen Song im Bus - und die Partei schnellt in den Umfragen auf über 20 Sitze hoch. Seit ihm die Sozialdemokraten mit der Charmeoffensive ihres Wouter Bos die Schau gestohlen haben, geht es mit der SP-Liste allerdings wieder bergab. Die Niederländer wählen nach Gesicht. Zwar ist ihnen das Programmatische nicht einerlei, aber die Parteien gleichen sich in der großen niederländischen Konsensgesellschaft zu sehr. Wo viel diskutiert und ausgehandelt wird, unterschieden sie sich nur noch in Nuancen. Ein Polarisierer wie Pim Fortuyn, der die Grenzpfähle der political correctness in diesem Land deutlich nach rechts verschoben hat, fehlt jetzt.

Und so geloben alle ein härteres Vorgehen gegen illegale Immigranten, alle wollen die Kriminalität bekämpfen, das marode Gesundheits- und Verkehrswesen sanieren und die seit neuestem wieder ansteigende Arbeitslosigkeit bekämpfen. Steuern anheben oder mehr Schulden machen? Niederländische Realpolitik ist genauso langweilig wie anderswo. Wer hätte vor ein paar Monaten noch einen Cent auf einen Wiedereinzug der Sozialdemokraten in die Den Haager Regierung gewettet?

Die dramatischen Wahlen vom vergangenen Mai, an deren Vorabend der populistische Dandy Pim Fortuyn ermordet worden war, waren für die Partei der Arbeit ein brutales Blutbad. Zwölf Jahre lang waren sie in verschiedenen Koalitionen an der Macht. Acht Jahre lang stellten sie den Ministerpräsidenten mit dem überaus beliebten Wim Kok. Doch dann sackten sie mit dem Aufkommen der Fortuyn-Populisten und den von der Linken völlig tabuisierten Immigrationsthemen von 45 auf 23 Sitze ab. Soviel Erdrutsch war nie.

Die Wirtschaft boomt im Reich zwischen Schelde und Ems

An der Macht war die niederländische Sozialdemokratie kalt und arrogant geworden, hatte nur noch Technokratisches zu bieten. Das "torentje", das Türmchen im Haager Binnenhof, dem Regierungsviertel, wo sich der frühere Ministerpräsident Kok immer mehr zurückzog, ist heute noch für viele ein Symbol für das menschenferne Regententum der Sozialdemokraten. Hatten ihre Minister mal wieder Mist gebaut, dann gab es zwar parlamentarische Untersuchungen. Aber abdanken musste keiner. Sie sagten einfach "sorry". Diese achselzuckende "Sorry-Kultur" war es, die einen wie Pim Fortuyn und seine Anhänger in Rage brachte.

Die Sozialdemokraten waren es auch, die den Neoliberalismus erfolgreich in den NIederlanden einführten und ihm mit ihrem "Poldermodell" sogar ein soziales Antlitz gaben. Das 16-Millionen-Volk hat die Strukturreformen, die die Deutschen noch vor sich haben, schon hinter sich: Sie haben bei der Bürokratie abgespeckt, sie haben Teilzeitarbeitsmodelle und flexible Zeitarbeit eingeführt. Das deutsche Hartz-Modell ist fast 1:1 von der aktiven niederländischen Arbeitsmarktpolitik abgekupfert. Die Arbeitsämter sind dort aufgelöst, private Vermittler tun einen guten Job. Die Rente der Niederländer wird über drei Stufen organisiert und heißt deshalb auch "Cappuccino-Modell": eine steuerfinanzierte Grundsicherung als Basis für alle, wie guter, schwarzer Kaffee. Eine betriebliche Vorsorgeversicherung als dicke Sahnehaube obendrauf und dazu noch private Rücklagen, wie die Kakaokrümelchen beim Cappuccino. Die Wirtschaft boomte im Reich zwischen Schelde und Ems in den vergangenen zehn Jahren über die Maßen.

Und trotzdem: Der reiche Nachbar hat auch ein paar schlimme Probleme. Bei aller Privatisierungswut hat er sein Gemeinwesen kaputt gespart. Die Niederländer sind staugeplagt und klagen über schlechte Züge. Schulen und Bildungswesen verlottern. In Krankenhäusern kommt es wegen der langen Wartelisten täglich zu menschlichen Katastrophen. Patienten sterben weg, weil Ärzte und Behandlungskapazitäten fehlen. Tagtäglich, so klagen Mediziner zwischen Groningen und Maastricht, müssen sie die harte Auswahl treffen, welchen Schwerkranken sie noch eine Chance geben können und welchen nicht.

Sittenverrohung durch Neoliberalismus

Der Neoliberalismus habe auch zu Sittenverrohung geführt, meinen viele Niederländer und führen seit einem halben Jahr in Cafés, in Theatern und TV-Talkshows unablässig Diskussionen über ihre Normen und Werte, so intensiv wie kein anderes Volk in Europa. Der christdemokratische Regierungschef Balkenende stieß die Debatte an mit seinem Slogan: Anstand muss man machen.

Die Regierung gab einem Soziologie-Institut sogar den amtlichen Auftrag, den Normen-Pegel der niederländischen Gesellschaft zu messen. Ergebnis: Die Niederländer fühlen sich mit der allgegenwärtigen Kommerzialisierung ihres Alltags nicht wohl. Die totale Freiheit der Auswahl sei auch eine Belastung. Die ständige Aufforderung, nach Rabatten und Schnäppchen zu greifen, lasse die Menschen zu egoistischen Jägern verkommen. Es werde schon schief angeguckt, wer nicht die Versicherung bescheißt. Kurzum: Der Ehrliche sei der Dumme.

Inwieweit die neue Sehnsucht nach Führung und Leitlinien sich auf das Wahlergebnis niederschlägt, wird sich am Mittwoch zeigen. Es wird ein Duell zweier ungleicher Männer geben, eine Wahl zwischen Sachlichkeit und Schick: Amtsinhaber Balkenende von den Christdemokraten gibt den Verlässlichen und will die zweite Chance. Der Sozialdemokraten-Star Wouter Bos hat Charme, aber auch eine verstaubte Technokratenpartei im Schlepptau.

Und endlich hat er sich auch mal festgelegt: Er will gar nicht Staatsmann werden bei einem Sieg. Bos will als Fraktionsführer im Parlament Politik machen. In letzter Minute hat er am Sonntag den Parteifreund Job Cohen als möglichen Regierungschef aus dem Hut gezaubert. Cohen ist für Kenner der "freien Republik" Amsterdam kein Unbekannter: Er ist der Bürgermeister der wild-schönen Stadt.